Schuld Teil I

28.07.2023

Schuld 

"Urteile (auch über mich selbst) sind ein tragischer Ausdruck unerfüllter Bedürfnisse. "

Marshall B. Rosenberg

In unserer Gesellschaft zeigt sich das Schuld-Denken jeden Tag - im Privaten, in den Medien, in der Öffentlichkeit.

Wenn ich denke :"Du bist Schuld." erfülle ich mir auch ein Bedürfnis.

Was denkst du, welches Bedürfnis man sich dabei erfüllt?

Ich denke, dass ich mir damit das Bedürfnis nach zum Beispiel Entlastung erfüllen möchte. 

Wenn mein Gegenüber meine Schuld-Zuweisung annimmt, hat derjenige vielleicht ein schlechtes Gewissen, vielleicht rechtfertigt derjenige sich oder zieht sich zurück. Vielleicht hat er den Eindruck "Ich bin falsch.", "Ich bin nicht gut." o.ä. oder er wird wütend...

Was passiert noch, wenn ich jemand anderen die Schuld gebe?

Ich gebe etwas sehr wichtiges ab:

Verantwortung.

Wenn der andere Schuld ist, dann bin ich es nicht und übernehme somit keine Verantwortung für das was passiert ist bzw. für mich. Der andere hat das verursacht und ich erwarte, dass er das anerkennt. Ich entscheide, das der andere Schuld ist. Ich denke, dass er etwas verkehrt gemacht hat!                      Ich habe unangenehme Gefühle, weil mein Gegenüber sich verkehrt verhalten hat. Er ist Schuld.


Wenn ich jedoch von der GFK-Haltung ausgehe, gibt es keine Schuld, weil...

Jeder Mensch zu jeder Zeit sich Bedürfnisse erfüllt UND sein Bestes gibt, was er gerade zur Verfügung hat UND kein Mensch dem anderen etwas Böses will.

Wie geht es dir damit? Welche Gedanken hast du gerade? Vielleicht ein "ABER...-Gedanken"?


Wenn wir im Schuld-Denken sind, geht noch etwas anderes, aus meiner Sicht für uns Menschen sehr wichtiges, verloren:

die Verbindung zu meinem Mitmenschen und auch zu mir

Sie bricht ab.


Schuld ist z.T. auch noch mit etwas anderem verknüpft: mit Scham.

Wir schämen uns, weil wir Schuld sind, weil wir etwas verkehrt gemacht haben.                        Vielleicht kommen auch Gedanken, wie: Ich bin falsch.

Schuld und Scham hängen stark zusammen.

Wenn ich mir selbst die Schuld für etwas gebe, schäme ich mich vielleicht für mein Handeln.

Nur:

Als ich gehandelt habe, habe ich das Beste gegeben, was mir zu diesem Augenblick zur Verfügung stand. Ich hatte damals keine bessere Idee, Strategie oder andere Möglichkeit zu handeln.

Ja, das kann auch sehr sehr tragisch sein, wenn einem Menschen nichts besseres zur Verfügung steht, als z.B. Gewalt anzuwenden.


Wenn ein Kind in der Schule haut... Was passiert dann?

"Wir hauen hier nicht.", "Das macht man nicht.", "Du darfst jetzt nicht mehr hier sein, bis du dich beruhigt hast.", "Schau mal, das andere Kind weint jetzt und hat Angst." (Du bist Schuld.), "Du entschuldigst dich jetzt.", "Hauen geht gar nicht.", "Mich macht das total traurig, dass du das andere Kind gehauen hast." u.v.m.

DU BIST SCHULD. 

DU BIST NICHT OKAY.

Vielleicht schämt sich das Kind ("Ja, das ist doch richtig so!").                                                              Vielleicht schämen sich die Eltern ("Ja, die  machen bestimmt etwas verkehrt. Ansonsten haut doch kein Kind.").


Ich schreibe gerade diesen Artikel und bin bedrückt, weil ich das oben Geschriebene immer wieder erlebe, höre, von Eltern erzählt bekomme, vom ErzieherInnen, LehrerInnen und von Kindern.              Mir liegt es sehr am Herzen, dass wir von diesem Schuld (und Scham)-Denken wegkommen, weil es uns Menschen voneinander trennt. Das ist tragisch und traurig.


Jeder Mensch gibt zu jeder Zeit sein Bestes, was er zur Verfügung hat.

Ich bin sehr dankbar, dass ich die Gewaltfreie Kommunikation kennengelernt habe und immer mehr von - ich nenne es mal - "alten Denkmustern" wegkomme hinzu mehr und mehr Verbindung mit mir und meinen Mitmenschen. 


Was ist nun meine Idee, wenn wir nochmal auf das Beispiel mit dem Kind kommen, dass ein anderes Kind gehauen hat?

Als erstes: was ist in mir, welche ver- und beurteilenden Gedanken sind gerade da? Was wünsche ich mir? Kommen da vielleicht verurteilende Gedanken? Vielleicht, ja - auch ich habe das so gelernt, kenne das Schuld-Denken und Verurteilen.

Also gehe ich als erstes in die Selbstempathie und schaue, was bei mir los ist (mit Hilfe der 4 Schritte der GFK) . Wenn ich dann Klarheit habe und es mir gut geht, d.h. Ärger, Wut und Verurteilungen weg sind, gehe ich zu dem Kind.

Du denkst jetzt vielleicht: Das dauert doch viel zu lange. Ja, da gebe ich dir recht. Am Anfang.             Wir dürfen Neues erstmal üben und trainieren. Wenn du etwas Neues lernst, weißt du, dass das Zeit braucht und du es nicht sofort kannst. Genauso ist es auch, wenn wir aus alten Mustern ausbrechen wollen.

Veränderung benötigt Zeit und Ausdauer.

Ich denke: 

Es lohnt sich, weil du mit dir UND danach mit deinem Mitmenschen IN VERBINDUNG kommst.          In die Herz-zu-Herz-Verbindung.

Zurück zu meinem Beispiel:

Ich bin nun ganz ruhig, weil ich mich versorgt habe - mir empathisch und liebevoll begegnet bin.

Ich kann nun zu den beiden Kindern gehen und wahrscheinlich erstmal trösten. Beide.

Ich erlebe in solchen Situationen fast immer, dass BEIDE erschrocken sind. Der eine möchte keinen Schmerz haben, nicht gehauen werden (Bedürfnis nach Gesundheit und z.B. Gleichwürdigkeit), der andere möchte keinem Wehtun (Bedürfnis nach z.B. Gleichwürdigkeit - Gleichwertigkeit und auch Fürsorge) und nun ist es doch passiert. Puuuh, das ist ganz schön erschreckend.

Teilweise spreche ich das auch (gleich - je nach Situation) an: 

"Ihr seid beide gerade erschrocken, gell."

Beide Kinder nicken. Manchmal weint dann (auch) der, der gehauen hat. Es löst sich etwas.

Ich tröste und sage dann (je nach Alter des Kindes) zu dem Kind, das gehauen hat:

"Ich denke du weißt, dass ich hauen nicht in Ordnung finde. Ich glaube auch, dass du nicht hauen wolltest. Du warst gerade unter Druck, oder?" Dann frage ich nach, was passiert ist. Was vorher war.

Es geht dann z.B. um Grenzen wahren oder um unbedingt mit dem anderen spielen wollen oder um Gehört werden oder...

Ich sage dann z.B.: "Okay, du wolltest... und warst hilflos (oder unter Druck), dann waren so viele Gefühle da und du hast gehauen." "Ja." "Weißt du, das was du wolltest, ist in Ordnung. Lass uns jetzt schauen, was du das nächste Mal anderes machen kannst, damit du verstanden wirst. Magst du?" "Ja."

So ein Gespräch ist natürlich altersentsprechend länger oder kürzer. An erster Stelle steht auch hier die Empathie, danach sind Menschen offen für ein Gespräch.


Ich hatte mal eine ähnliche Situation in einer Grundschule in einer 4. Klasse: 

(zur Info: Ich gebe Selbstbehauptungskurse an Grundschulen. Mehr dazu: www.empathisches-coaching.bayern) :

Ein Junge hat einen anderen Jungen in der Pause gehauen. Die Lehrerin erzählte mir kurz vor Kursbeginn davon.

Kursbeginn. Wir saßen im Stuhlkreis in der Klasse. Ich habe die Auseinandersetzung angesprochen und beide gefragt, ob sie darüber sprechen wollen. "Nein."

Ich habe gesagt, dass das okay ist. Dann habe ich gesagt, dass ich weiß, dass jeder zu jeder Zeit sein Bestes gibt und ich weiß, dass kein Kind einem anderen Kind wehtun möchte. Wenn ein Kind haut, weiß es sich gerade nicht anders zu helfen und das ist für beide schmerzhaft. Das ist traurig. Wir Erwachsene dürfen euch dann zeigen, wie ihr in solchen Situationen anders handeln könnt...

Während ich so geredet habe, hat das Kind, das gehauen hat, seinen Kopf langsam gehoben.                Als ich sagte, dass ich mir sicher bin, dass kein Kind dem anderen wehtun will, hat er zu dem Jungen geschaut, den er gehauen hat. Ich hatte den Eindruck, er war erleichtert, hat sich gesehen gefühlt und konnte so Kontakt aufnehmen. Der andere Junge hat den Blick erwidert und es entstand eine Verbindung zwischen den beiden.

Wir haben nicht weiter über die Situation in der Pause geredet, sondern mit dem Kurs weitergemacht und es war gut. Die Stimmung war nicht mehr bedrückt, sondern gelöst.

Ich denke (das ist jetzt eine Vermutung), dass der Junge der gehauen hat, mich anfangs nicht anschauen konnte, weil er besorgt war, dass er Ärger bekommt: "Man macht so etwas nicht.", "Du musst dich entschuldigen" , "Du bist Schuld, dass es dem anderen schlecht geht." Vielleicht war er auch besorgt, dass das Verhalten Konsequenzen haben wird.                                                                                          Das ist im Moment noch der "geläufige Ablauf", den wir alle - so denke ich - allzu gut kennen, oder?


Ja, hauen ist nicht in Ordnung UND: das wissen die (meisten) Kinder.                                                                Das brauchen wir ihnen nicht immer wieder erzählen. 

Wir dürfen die Not hinter dieser Handlung sehen. Niemand ist Schuld.

Auch nicht das Kind, das gehauen wurde. 

Beide Kinder haben ihr Bestes gegeben und es ist an uns Erwachsene, den Kindern Strategien und Wege an die Hand zu geben, damit sie Ideen bekommen, wie sie gut für sich sorgen können UND wie sie gut für die Gemeinschaft und das Wohl der anderen sorgen können.

Es gibt auch Erwachsene, die Strategien und Wege wählen, die nicht "gemeinschaftskompatibel" sind. Das finde ich tragisch, weil sie das bis zum Erwachsenenalter nicht gelernt haben, weil kein Erwachsener da war und ihnen die Hand gereicht hat, als sie Kind waren. Das ist tragisch.

Nun sind sie Erwachsen und es wird erwartet, dass sie sich "gemeinschaftskompatibel" verhalten.

Es gibt auch Erwachsene, die einen Menschen dringend brauchen, der sie unterstützt, Wege zu finden gut für sich zu sorgen und lernen dürfen, respektvoll mit ihren Mitmenschen umzugehen.

Lasst uns in Verbindung gehen - weg von Scham und Schuld hinzu:

"Jeder gibt zu jeder Zeit sein Bestes, was er in diesem Moment zur Verfügung hat."                                     Marshall B. Rosenberg

Es grüßt dich von Herzen

Silvia


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